2012 Ein Jahresrückblick

Ein anstrengendes Jahr geht zu Ende. Vor einem Jahr hatten die Vereinten Nationen dazu aufgerufen, dass Deutschland sich mit ATME zusammensetzt, bzw. die kritischen Stimmen zu "Geschlechtsidentitätsstörung" und "Gender Dysphorie" anhört. Ehrlich gesagt wären wir verwundert gewesen, wenn sich da tatsächlich jemand gemeldet hätte und so erlebten wir, dass 2012 sowohl die Psychopathologisierungs-Propaganda, sei es durch RTL2-Sendungen, Musikveröffentlichungen oder Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung (in der diejenigen zu Wort kamen, die transsexuelle Menschen für psychisch krank halten), stark zunahm, aber gleichzeitig auch transsexuelle Menschen - beispielsweise durch Unterstützung der change.org-Petition, die im Oktober in Spanien gestartet wurde - deutlicher als zuvor zu erkennen gaben: Wir sind nicht psychisch krank!

Als Anfang 2012 ein transsexuelles Mädchen in Berlin für seine Rechte kämpfte, stand es einer Sexologie gegenüber, die transsexuelle Mädchen nicht als existent ansieht. Geändert hat sich an dieser Haltung der Charité zum Thema nichts. So heisst es als Begründung für einen Versuch einen Wikipedia-Artikel abzuändern, selbst im Dezember 2012 noch "Die Diagnose Transsexualität kann im Kindesalter nicht vergeben werden. Die Bezeichnung "transsexuelles Mädchen" ist insofern unzutreffend und vermittelt diesbezüglich einen falschen Eindruck. Änderung durch Institut für Sexualwissenschaft, Charité." Geändert hat sich aber dennoch etwas: Transsexualität im Kindesalter ist zum Thema geworden und das Mädchen traf auf die Unterstützung von unterschiedlichen Menschen.

ATME warnte davor, die Psychopathologisierung transsexueller Kinder nur als Berliner Problem anzusehen. Die Psychopathologisierung hat ihren Ursprung in der sexologischen Annahme, dass ein transsexuelles Mädchen ein "biologischer Junge" sei, der sich "wie ein Mädchen fühlt". Im Februar warnten wir vor der Ausweitung dieser Sichtweise. Im Dezember 2012 bestätigte sich unsere Vermutung. Im neuen DSM 5, dem Manual der psychischen Störungen wird nun erstmals unter dem Kapitel Geschlechtsidentitätsstörungen ein "Geburtsgeschlecht" behauptet, dem eine "Gender Dysphorie" entgegensteht. Deutliche Worte der Sexologie. Ein deutliches Zeichen für uns, dass wir mit unserer Vermutung Recht behalten haben.

2012 war für uns auch das Jahr, in welchem wir erneut Menschenrechtsberichte verfasst haben. So begann im Januar die Arbeit am Alternativbericht zum UPR, der allgemeinen Überprüfung der Menschenrechtsabkommen durch die Vereinten Nationen. Dieser Bericht ist seit Spätsommer online und warnt hauptsächlich davor, dass Begriffe wie "Gender Dysphorie" und "Gender Identity" auch dazu verwendet werden können, Menschenrechtsverletzungen an transsexuellen Menschen zu begehen, wenn diese zur Stützung geschlechtlicher Fremdbestimmung verwendet werden. Im Januar konnte ATME in einem Report von UPR Info unter dem Titel "Mid-term Implementation Assessment" bereits Kritik an der Politik der Bundesregierung anbringen, die kritische Stimmen bewusst ausblendet.

Im März haben wir einen eine Stellungnahme an die WHO gesendet, den ICD so zu ändern, dass Transsexualität nicht weiterhin als psychische Störung erachtet wird. Die Forderung Transsexualität als geschlechtliche Normvariante zu verstehen, haben wir seit Bestehen von ATME. Im Oktober schlossen wir uns daher gerne an eine Petition an, die in Spanien von Carla Antonelli gestartet wurde. Unter dem Slogan "Ich bin nicht krank, ich bin grossartig!" sind über 70-tausend Stimmen bis zum Jahresende zusammen gekommen, die von der WHO fordern, transsexuellen Menschen in Zukunft eine medizinische Versorgung mit Hormonen und den nötigen Operationen zukommen zu lassen, ohne dass transsexuelle Menschen gleichzeitig als psychisch krank gelten.

In Baden-WÜrttemberg unterstützt ATME seit 2011 den Aufbau eines LSBTTI-Landesnetzwerks, im Frühjahr 2012 beteiligte sich Kim Schicklang, die erste Vorsitzende der Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V. an der Übergabe einer Landesliste für Gleichstellung, einer Auflistung von über 40 Initiativen und Gruppierungen, die sich an einem Aufbau eines Netzwerkes in Baden-Württemberg beteiligen wollen. Ende des Jahres wird das Netzwerk gegründet. Daneben organisierte ATME 2012 in Baden-Württemberg eine Demonstration, beteiligte sich am CSD in Stuttgart und Kim Schicklang spricht, als erste transsexuelle Frau in der Geschichte Baden-Württembergs, auf einem CSD-Empfang im Staatsministerium und erinnert daran, dass transsexuelle Frauen ein Wissen über ihrer Geschlechtszugehörigkeit haben, welches von der Sexologie in Deutschland immer noch als "psychisch krank" oder abweichend zum angeblichen "Geburtsgeschlecht" erachtet wird.

Im Sommer erscheint der ATME-Ratgeber "Die Würde transsexueller Kinder", in der beschrieben wird, dass die medizinische Behandlung transsexueller Menschen schon im Kindesalter ohne Psycho-Diagnosen auskommen kann, wenn eine Gesellschaft dazu bereit ist, Transsexualität als natürliche Normvariante anzuerkennen. In diesem Ratgeber wird deutlich gemacht, dass auf Diagnosen wie "Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter" komplett verzichtet werden kann. Ebenfalls Sommer war es, als uns der Hilferuf einer transsexuellen Frau erreichte, deren Lebensgeschichte ungefragt in einem Lied karikiert wurde, welches der Beitrag des Bundeslandes Saarland auf dem Bundesvision Song Contest war.

In einer Broschüre des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen wird im Spätsommer in einer Broschüre mit dem Titel "Born Free and Equal", die sich für die Rechte von Menschen aus dem LGBTTI-Spektrum stark macht, an zwei Stellen auf Ergebnisse der Menschenrechtsarbeit von ATME e.V. verwiesen und Deutschland im Zusammenhang mit den Empfehlungen des CEDAW-Komitees und des Sozialpaktes genannt. ATME hatte beide UN-Sessions begleitet und menschenrechtliche Forderungen gestellt.

Die Medienöffentlichkeit hatte sich 2012 einerseits verstärkt hinter die Psychopathologisierung transsexueller Menschen gestellt und mit Sendungen auf RTL2 oder Zeitungsberichten wie z.B. im Stern die Sichtweise der Sexologie übernommen, demnach es sich bei Transsexualität um den Wunsch handele, das Geschlecht zu wechseln. Wir hatten schon fast mit diesen Werbemassnahmen gerechnet, da der Druck auf die Sexologie höher geworden ist und sich die beteiligten Psychopathologen stärker als bisher in ein positives Licht rücken müssen, um überhaupt noch ernst genommen zu werden. Dennoch konnte durch den Einsatz von vielen transsexuellen Menschen, welche die mediale Entwicklung kritisch verfolgt haben, 2012 verhindert werden, dass Werbebeiträge für die Sexologie ohne Proteste stattfinden. Wir haben uns beispielsweise auch an Protesten gegen Darstellungen des ZDF beteiligt, in denen Transsexualität als "psychische Störung" verkauft wurde. Die ZDF-Website der Sendung "Mona Lisa", auf der zuvor einseitig die Haltung der Sexologie propagiert wurde, wurde nachträglich geändert.

Fazit: Das Jahr 2012 war anstrengend, aber die richtigen Themen sind auf dem Weg. Wir hätten uns zwar gewünscht, dass es mehr Bündnisse für die Menschenrechte transsexueller Menschen gegeben hätte (wie z.B. bei der change.org-Petition, zu der wir ja alle Gruppen und Vereine eingeladen hatten, sich daran zu beteiligen), können aber zurückblickend zusammenfassen, dass sich in diesem Jahr so etwas wie ein transsexuelles Selbstbewusstsein gezeigt hat und die Forderungen, die wir schon vor einem halben Jahrzehnt gestellt hatten und dafür damals noch von vielen Gruppen und Einzelpersönen belächelt wurden - wie die Abschaffung von Psycho-Diagnosen, die transsexuelle Menschen als "psychisch krank" definieren - heute bereits Haltungen der Vereinten Nationen und des EU-Parlaments sind. Das freut uns. Auch wenn durchatmen auch mal schön wäre. Danke an alle! Auch an unsere Kritiker.