Das transphobe Weltbild der Psychoanalyse

Um zu verstehen, was sich diejenigen unter einer "Geschlechtsidentitätsstörung" vorstellen, die transsexuelle Menschen heute noch als geisteskrank klassifizieren, ist es wichtig zu begreifen, was sich die Psychoanalyse unter einer "psychosexuellen Entwicklung" vorstellt. Erst damit wird greifbar, was an den Diagnosen in ICD und DSM, die bis heute u.a. zu den Standards in Deutschland gehören, so menschenverachtend ist.

Es gilt als gesicherte Kenntnis aus der Wissenschaft und Biologie (vergl. Callahan, Between XX and XY, 2009), dass das Geschlecht eines Menschen nicht nur aus den Genitalien besteht. Anzunehmen, man könne mit hundertprozentiger Sicherheit an den Genitalien das biologische Geschlecht eines Menschen ablesen, ist genauso als falsche Annahme widerlegt, wie die Vermutung, dass die Treffsicherheit bei Chromosomen besser wäre. Ob ein Mensch XX oder XY-Chromosomen besitzt, kann (genauso wie der Versuch der Geschlechtsbestimmung über die Genitalien) nur zu einer Näherung führen, eben höchstens zu einer Annahme darüber, welchem Geschlecht ein Mensch wahrscheinlich angehören mag - eine Hundertprozentigkeit gibt es aber auch hier nicht. Es ist wissenschaftliche Tatsache, dass gebärfähige Frauen auch xy-Chromosomen besitzen können (Frydman, R. et. al. 1988, Kan, A.K.S., et. al. 1997, Selvaraj, K. et. al. 2002) sowie es auch Männer mit xx-Chromosomen gibt.

Was mit definitiver Sicherheit gesagt werden kann ist also: Das biologische Geschlecht eines Menschen kann weder an den Genitalien noch an den Chromosomen so abgelesen werden, dass hier immer ein richtiges "Ergebnis" zu erwarten ist - geschlechtliche Abweichungen sind Teil der Natur.

"Nature loves diversity, society hates it." (Dr. Milton Diamond)

Es gibt viele Beispiele in der Geschichte der Menschheit dafür, wie schwer es manchen Weltanschauungen fällt, die geschlechtliche Vielfalt der Natur zu begreifen. Die Psychoanalyse ist eine dieser Weltanschauungen, stellt sie doch bis heute die Genitalien in den Mittelpunkt und leitet aus dem Vorhandensein oder Fehlen eines Penis nicht nur das biologische Geschlecht, sondern vorallem auch die psychische Entwicklung eines Menschen ab.
 
"Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung des Organreizes"
(Sigmund Freud [1905] 1982, Bd. 5, 77)

Die Psychoanalyse sieht in dem Trieb des Menschen das ihm innewohnende Bedürfnis, sich wie seine Genitalien zu verhalten. Verhält sich ein Mensch anders, wird er der Psychoanalyse nach psychisch krank. Eine psychoanalytische Psychotherapie hat also immer das Ziel, einen Menschen mit seinem Urtrieb, dem Sexualtrieb (dem ordnungsgemässen Gebrauch der Genitalien) zu versöhnen - Menschen, die dazu par tout nicht in der Lage sind, haben laut Ansicht des Psychoanalytikers eine gestörte "psychosexuelle Entwicklung" durchlaufen.

Wie sich die Psychoanalyse die psycho-sexuelle Entwicklung des Kindes in den ersten zwei Lebensjahren vorstellt, beschreibt die Psychoanalytikern Hertha Richter-Appelt in dem von Volkmar Sigusch herausgegebenen Buch "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung" am Beispiel der "Entwicklung des Knabens":

"Im Laufe des ersten Lebensjahres verfügt das Kind zwar noch nicht über eine psychische Repräsentanz seiner Geschlechtsteile, entdeckt aber durch Stimulation durch die Pflegeperson und Selbststimulation die Genitalien als einen Lust spendenden Körperteil. [...] Im zweiten Lebensjahr entwickelt der Junge ein Gefühl für körperliches Funktionieren, vor allem für Kontrolle über Körperfunktionen, das mit Stolz verbunden sein kann. Der Spaß, der beim Urinieren in dieser Phase beobachtet werden kann, führte dazu, dass von Urethralerotik gesprochen wurde (Abraham 1917, Roiphe u. Galenson 1981). Im Umgang mit dem Urinieren (auch im Wettkampf mit anderen) und durch kindliche Masturbation differenziert sich das Gefühl der Kontrolle über den Körper.  [...] Mit Stolz zeigt der kleine Knabe in diesem Alter seine Genitalen, was als phallischer Exhibitionismus bezeichnet werden kann. [...] Überstimulierung, aber auch Unterdrückung sexueller Regungen in dieser Zeit können weit reichende Konsequenzen für die Erwachsenensexualität haben"

Später entwickelt ein psychisch gesunder "Knabe" laut Psychoanalyse eine "männliche Geschlechtsrolle", wie Hertha Richter-Appelt weiter ausführt:

"In der phallisch-narzisstischen Phase kommt es zu einer weiteren Differenzierung des Körperbildes und zur bewussten Übernahme der männlichen Geschlechtsrolle. Die Kastrationsangst muss bewältigt werden, damit andere Menschen nicht zur narzisstischen Befriedigung von Bedürfnissen durch Bewunderung, Kampf oder Entwertung missbraucht werden."

Wer wissen will, was sich die Psychoanalyse unter einer "männlichen" oder "weiblichen Geschlechtsrolle" vorstellt, wird darüber vorallem durch solche psychoanalytischen Texte aufgeklärt, in der es um die Menschen geht, die sich nicht wie ihre Genitalien verhalten wollen. So gehören beispielsweise der ersten Drafts zum DSM V, der fünften Ausgabe des Buchs der psychischen Störungen nach, die 2013 erscheinen soll, dessen Abschnitt "gender identity disorders" von dem kanadischen Psychoanalytiker Kenneth Zucker angeleitet wird (aber auch von deutschen Psychoanalytikern wie z.B. Friedemann Pfäfflin aus Ulm unterstützt wird), folgende Merkmale zu "männlichem" bzw. "weiblichem" Verhalten:

  • männliche oder weibliche Kleidung
  • Spielzeug (Puppen oder Spielzeugautos)
  • Aktivitäten (z.B. Raufen bei Jungs)
  • Spielfreunde
(DSM V Draft, APA 2010, Gender Identity Disorders in Childhood)

Eine "Gender Identity Disorder" könne in der Kindheit noch behandelt werden, die psychosexuelle Entwicklug sei schliesslich noch nicht abgeschlossen. Eine Ich-Identität hätte sich noch nicht entwickelt:

"Nach Erikson kann einer Person erst nach Abschluss der Adoleszenz Ich-Identität zugesprochen werden [...] In Psychoanalyse und Psychotherapie haben Eriksons Konzepte ungeachtet diverser Kritikpunkte und einzelner Modifikationen sehr weite Verbreitung und Anerkennung gefunden, und sie erweisen sich als heuristische Modelle in der konkreten psychotherapeutischen Arbeit auch heute noch als brauchbar."

So heisst es in einem Artikel von Friedemann Pfäfflin (Pfäfflin: Sexuelle Identität ins Grundgesetz? 2010), der hier begründet, warum er die Aktion "Artikel 3 - sexuelle Identität ins Grundgesetz" nicht unterstützt hat. "Homosexuell" oder "Transsexuell" werde man nämlich erst, sei es aber als Kind noch nicht. Laut Psychoanalyse sind Kinder darum noch so behandelbar, dass sie sich mit ihrer "angeborenen Geschlechtsrolle" ("biological gender", Kenneth Zucker, NY-Times 2006) versöhnen. Bernd Meyenburg, ein Kollege des Psychoanalytikers Volkmar Sigusch erklärt dies in "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung" folgendermassen:

"In unserer klinischen Praxis haben wir die Erfahrung gemacht, dass vor allem ältere, biologisch weibliche Jugendliche so eindeutig und unauffällig ihren Weg gehen. Aber auch in dieser Gruppe gibt es nach unserer Beobachtung Jugendliche, deren Entwicklung scheinbar klar in Richtung Geschlechtsumwandlung verläuft, die plötzlich aber die Therapie abbrechen und in einer homosexuellen Beziehung leben, was sie zuvor strikt abgelehnt haben."

Es ist wichtig hier zu erwähnen, dass Meyenburg unter "Geschlechtsumwandlung" die Änderung der Genitalien meint.

"Sie sehen doch, das Kind hat einen Penis, also ist es kein Mädchen"
(Bernd Meyenburg, Telefon-O-Ton 2008)

Für psychoanalytisch orientierte Sexologen ist bis heute ein transsexueller Mann eine Frau, die "wie ein Mann fühlt" und eine transsexuelle Frau ein Mann, der "sich wie eine Frau fühlt" ("Männer, die sich innerlich bewusst oder vorbewusst weiblich fühlen", Zitat: Wilhelm F. Preuss 2010, Hamburger Abendblatt). Dass transsexuelle Menschen zum Zeitpunkt ihres Outings die Wahrheit über ihre Geschlechtszugehörigkeit äussern, wird von der Psychoanalyse bis heute abgestritten. Ein psychoanalytisches Weltbild, das die Genitalien als "biologisches Geschlecht" behauptet und die psychische Entwicklung eines Menschen als genital-konforme Geschlechtsrollenerfüllung betrachtet, obwohl kaum ein Biologe mehr abstreiten würde, dass das Geschlecht des Menschen nicht an den Genitalien abgelesen werden kann, führt in der Praxis dazu, dass transsexuelle Menschen nicht als "echt" klassifiziert sind, sondern als de-facto-Lügner über ihre Geschlechtszugehörigkeit, die sich auf Grund einer Identitätsstörung ihr Geschlecht nur einbilden.

Die Anerkennung transsexueller Menschen als "echt" und geschlechtliche Variante der Natur war und ist Ziel der Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V., da wir es als ebenso absurd ansehen, das Geschlecht eines Menschen auf die Genitalien zu reduzieren, wie wir zudem der Ansicht sind, dass es nicht sein kann, dass Geschlechtsrollenstereotypen als Diagnosekriterien angeblicher psychischer Störungen gelten.

Als Homosexualität in den frühen 70ern aus dem DSM entfernt wurde und fortan nicht mehr als psychische Störung galt, waren sich viele Menschen einig darüber, dass kulturelle Vorstellungen über Geschlecht nicht als Masstab herangezogen werden können, um die Menschen, die nicht diesen, teils sehr rückständigen kulturellen Vorstellungen entsprechen, als "geisteskrank" abzustempeln. Genau dieser Gedanke ist aktueller denn je, auch wenn die stigmatisierte Gruppe heute die Gruppe der transsexuellen Menschen ist, deren Geschlechtszugehörigkeit und geschlechtliche Varianz wieder einmal nicht zu den phallo-zentrierten Weltvorstellungen einiger Zeitgenossen passen will. Dass es ausgerechnet wieder die Psychoanalyse ist, die sich erneut ausser Stande sieht, die naturgegebene geschlechtliche Vielfalt zu begreifen und letztendlich zu akzeptieren, ist zwar auch symptomatisch für die Anhänger dieser Ideologie, aber wie die Geschichte bereits mehrfach gezeigt hat, überwindbar. Letztendlich genau dann, wenn diejenigen, die selbst als "unecht" klassifiziert werden, sich zur Wehr setzen und für die Anerkennung ihrer "Echtheit" eintreten und für die Menschenrechte kämpfen, die ihnen bislang verwehrt werden.

"Wir wollten uns diesen Scheiss nicht länger gefallen lassen. Die Zeit war reif."
(Sylvia Rivera, "transsexuelle" Frau und Stonewallveteranin und Zeitzeugin der Vorkommnisse in der Christopher Street im Jahr 1969)