Die Leistungspflicht der Krankenkassen

Zwar sind in Deutschland Ärzte und Therapeuten laut § 295 Absatz 1 Satz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Abrechnung ärztlicher Leistungen) verpflichtet, Diagnosen nach ICD-10 zu verschlüsseln, doch bilden die Grundlage für die Leistungspflicht der Krankenkassen nicht etwa der Eintrag im ICD oder DSM, sondern vor allem Gerichtsurteile, die transsexuelle Menschen erstritten haben.

542993 10151377470131454 605264912 n„Seit dem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6.08.1978 (Az 3 RK 15/86) ist geklärt, dass die Krankenkassen [...] für geschlechtsanpassende Maßnahmen bei Transsexualität leistungspflichtig sind. Das BSG verlangt außer der Diagnose einer irreversiblen Transsexualität, dass die Betroffenen unter einem hohen Leidensdruck stehen, der mittels psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung nicht behoben werden kann.” (Sabine Maria Augstein, 2006)

Besonders interessant ist hier der letzte Teilsatz: „der mittels psychotherapeutischer oder psychiatrischer Behandlung nicht behoben werden kann.” Wäre in Deutschland einmal anerkannt, dass es sich bei Transsexualität nicht um eine psychische Krankheit handelt, sondern dass Transsexualität angeboren - und somit nicht veränderbar - ist, wäre von vornherein klar, dass eine „psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung” daran auch nichts ändern kann, diese also überflüssig ist. Dann wäre so etwas, wie ein Alltagstest oder eine Zwangspsychotherapeutische Behandlung nicht mehr haltbar.

Deshalb ist es so wichtig sich dafür einzusetzen, dass Transsexualismus nicht länger in der F-Kategorie (als F64.0) für psychische Krankheiten im ICD der WHO gelistet wird und in Deutschland auch nicht mehr als psychische Krankheit gesehen werden darf. In England und Frankreich ist das bereits so, transsexuelle Menschen dürfen nicht mehr als psychisch krank bezeichnet werden, bekommen aber dennoch - wie zuvor - medizinische Leistungen bezahlt.

Doch zurück zur Leistungspflicht in Deutschland. Laut den "Grundlagen der Begutachtung [...] bei Transsexualität" des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS) gilt:

„Geschlechtsangleichende Maßnahmen werden von den Krankenkassen übernommen, wenn durch die Transsexualität ein Leidensdruck entsteht, der so groß ist, dass er einen Krankheitswert hat (siehe BSG-Urteil 1 RK 14/92 vom 10.02.1993 [...] [und] 3 RK 15/86 vom 06.08.87) .[...] In späterer Rechtsprechung wurde vom Bundessozialgericht (Urteil 1 RK 14/92 vom 10.02.1993; Beschluss B 1 KR 28/04 B vom 20.06.2005) noch einmal verdeutlicht:
'Nur wenn psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen, gehört es zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen, die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation zu tragen.'“

Oder anders gesagt: Wenn klar ist, dass Transsexualität keine psychische Störung ist und deshalb "psychiatrische und psychotherapeutische Mittel das Spannungsverhältnis nicht zu lindern oder zu beseitigen vermögen" muss die Krankenkasse medizinische Leistungen bezahlen. Momentan werden diese Leistungen immer wieder von den Krankenkassen hinausgezögert oder verweigert (auch von den Gerichten), mit dem Hinweis darauf, dass es sich bei Transsexualität um eine psychische Krankheit handle und diese prinzipiell keine medizinsichen Leistungen benötige und deshalb die Psychotherapie Vorrang vor medizinischen Leistungen habe.

"Erst durch den klinisch relevanten Leidensdruck wird Transsexualität im Einzelfall zu einer krankheitswertigen Störung bzw. zu einer behandlungsbedürftigen Erkrankung im Sinne des Krankenversicherungsrechtes."

Also nicht durch den Eintrag im ICD gilt Transsexualitäät als Krankheit, sondern auf Grund des Leidensdrucks.

Würde man anerkennen, dass es sich bei Transsexualität um eine Abweichung des Körpers vom eigentlichen Geschlecht handle, müsste gelten:
„Der Krankheitsbegriff umfasst [...] einen regelwidrigen, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichenden Körper- [...]zustand". (3 RK 15/86 vom 06.08.87)

Und das haben transsexuelle Menschen ja sicherlich.

Ein Zitat von Dr. Dr. Haupt allen zur Warnung:

"Eine weitere, wichtige Disziplinartechnik stellen Verunsicherungsstrategien seitens der PsychotherapeutInnen, JuristInnen und Krankenversicherer dar. Dazu ein Zitat aus einer deutschen Studie zum Thema Diskriminierung:
'
Die weitestgehende Möglichkeit der Entpathologisierung von Transgeschlechtlichkeit in Form der Streichung der entsprechenden Diagnosen wird meist im Zusammenhang mit der Frage des Zugangs zu medizinischer Versorgung diskutiert. Dies ist insbesondere ... [beim Thema] Kostenübernahme der Krankenkassen für geschlechtsangleichende Maßnahmen ein zentrales Thema.' [(Arn Toben Sauer und Jannik Franzen)]
Viele transsexuelle Menschen gehen dieser Pseudoargumentation auf den Leim. Sie befürchten, die Krankenkassen würden, ja müssten, bei einer Entpathologisierung von Transsexualität nicht mehr zahlen. Man sollte sich da nicht ins Bockshorn jagen lassen"

Zeigt ihnen, dass sie Euch nicht einschüchtern können, unterzeichnet unsere Petition!

"Wer kämpf, kann verlieren, doch wer nicht kämpft, hat schon verloren" (B. Brecht)

Quellenangaben:

Augstein, Maria Sabine (2006): Zur Kostenübernahmepflicht der Krankenkassen. In: Stalla, Günter K.: Therapieleitfaden Transsexualität. 1. Auflage. Bremen: UNI-MED, 2006. S. 51

MDS (2009): Grundlagen der Begutachtung. Begutachtungsanleitung. Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität. Stand 19.05.2009. S.9. Herausgeber: Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. (MDS).

Haupt, Dr. med. univ. Dr. phil. Horst-Jörg (2012): „Sie sind ihr Gehirn – Transsexualität im Spannungsfeld von Neurowissenschaft und Transphobie“. Vortrag gehalten bei der Fachkonferenz Trans*Identitäten 18.10.2012 in Wien. Zitiert von Horst Haupt: Franzen, J.; Sauer, A.: Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben. 2010, S.19 TvT: Menschenrechte & Geschlechtsidentität, Themenpapier. 2010.

Augstein, Maria Sabine (2006): Zur Kostenübernahmepflicht der Krankenkassen. In: Stalla, Günter K.: Therapieleitfaden Transsexualität. 1. Auflage. Bremen: UNI-MED, 2006. S. 51