Gleichstellung in Baden-Württemberg? Hmm...

Häufig genug überlegen wir uns, welche Überschrift wir für einen aktuellen Artikel wählen sollen. Zu der Situation in Baden-Württemberg ist uns nur ein "Hmm..." eingefallen. In einer Pressemitteilung der SPD heisst es "CSD: SPD fordert vollständige Gleichstellung". Die SPD nennt hier "Homo-, Bi- und Transsexuelle" und nennt als Themen der grün-roten Landesregierung die "komplette Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren", den "Kampf gegen Homophobie" und verweist darauf, dass man nach dem Regierungswechsel die Standesämter für homosexuelle Paare geöffnet habe. Hauptanliegen transssexueller Menschen wie die Beendigung der Psychopathologisierung und geschlechtliche Selbstbestimmung werden nicht erwähnt. Warum nicht? Wir haben in einem Interview mit dem Pressesprecher der Landes-SPD, Andreas Reißig nachgefragt.

Hier kann man sich das Interview anhören:




Als kleine Erinnerung, dass die Landesregierung in Baden-Württemberg längst über die Menschenrechtsverletzungen an transsexuellen Menschen informiert ist, hier eine Übersicht:
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Im Jahr 2009 veranstaltete die Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V. einen Diskussionsabend in Stuttgart, bei dem Ute Vogt (SPD), Biggi Bender (Die Grünen), Michael Marquardt  (FDP), Stefan Kaufmann (CDU), Marta Aparicio (Die Linke) über die Menschenrechtsverletzungen an transsexuellen Menschen diskutiert haben und wie man diese beenden kann.

Ausschnitt aus dem damaligen Artikel:
"Alle Politiker waren sich, trotz ihrer Parteizugehörigkeit einig darin, dass transsexuelle Menschen heute da stehen, wo sich die Homosexuellenbewegung noch vor einigen Jahren befand und bekräftigten, dass Veranstaltungen wie die Podiumsdiskussion in Lauras Café einen wichtiger Beitrag für einen gesellschaftlichen Wandel darstellen und machten den Anwesenden Mut, sich noch engagierter in der Öffentlichkeit mit ihren Diskriminierungserfahrungen zu präsentieren."

Zusammenfassung der Veranstaltung von 2009
Mitschnitt dieser Diskussion als Audiodatei
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Im Jahr 2010 gab es zwei Veranstaltungen zum Thema, die ATME organisiert hat. Eine davon zusammen mit dem AK Lesben und Schwule bei ver.di. Titel der Veranstaltungen war: "Sind transsexuelle Menschen wirklich geisteskrank?" (in der Weissenburg in Stuttgart) und "Was ist Transphobie?" (Im Theaterhaus in Stuttgart).

In der Weissenburg zu Gast waren: Annette Groth, die Menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, Jerzy M. Szczesny, der Referent für Antidiskriminierungs- und Gesellschaftspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Ute Kumpf (SPD), die stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses „Bürgerliches Engagement“ im Bundestag, Andrej Hunko (Die Linke), Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der europäischen Union, Flu Bäurle (Amnesty International – MERSI) und Christina Schieferdecker (ATME).

Ausschnitt aus dem damaligen Artikel:
"Der Abend, der von Joachim Stein (ver.di) moderiert wurde, führte die Gäste zum Ergebnis, dass der von den Grünen jüngst vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform des Transsexuellengesetzes, auch von der SPD mitgetragen werden könnte - zumindest wenn es nach Ute Kumpf ginge."

Im Theaterhaus zu Gast waren: Flu Bäurle (Amnesty), Ute Vogt (SPD), Stefan Kaufmann (CDU) und Ingrid Hönlinger(Die Grünen), sowie Balian Buschbaum

Mitschnitt und Zusammenfassung der Veranstaltung von 2010
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Anfang 2011 veröffentlich ATME den Wahlcheck u.a. zur Landtagswahl in Baden-Württemberg

Die Positionen der Parteien damals:

SPD: Transsexualität kann nicht als Wunsch bezeichnet werden. Transsexuelle Menschen haben klipp und klar einen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die Forderung Transsexualität nicht weiterhin als "Geschlechtsidentitätsstörung" anzusehen, wird unterstützt. Begutachtung nur zur Verifizierung für die Stabilität der Entscheidung nötig.

Grüne: Die Beibehaltung der psychiatrischen Begutachtungspraxis zur Änderung der Papiere wird vehement abgelehnt. Die Selbstbestimmung und Würde transsexueller Menschen muss respektiert werden. Der Antrag der Änderung der Papiere ist bei den Standesämtern zu stellen. Die ICD/DSM-Klassifizierungen müssen sich ändern. Transsexuelle Menschen sollen alle medizinischen Leistungen erhalten, die sie benötigen.

Die Zusammenfassung der Wahlaussagen für Baden-Württemberg von 2011

In 2011 veranstaltete ATME zusammen mit ver.di in Stuttgart einen Abend zum Thema "Selbstbestimmung oder Rezept?", bei dem es u.a. um die geplante Erweiterung des Bereichs der psychischen Störungen im DSM ging. (Hinweis: Der DSM existeirt mittlerweile, die Psychopathologisierung wurde ausgeweitet).

Mitschnitt des Abends

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Seit 2011 regiert grün-rot in Baden-Württemberg.

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Im Frühjahr 2012 organisiert ATME eine Demo in Tübingen, an der es um die Entpsychopathologisierung transsexueller Menschen ging.

Ein Audiomitschnitt dieser Demo gibt es hier

Ebenfalls im Frühjahr übergab u.a. Kim Schicklang, die erste Vorsitzende von ATME e.V. zusammen mit anderen die Landesliste für Gleichstellung (eine Sammlung der Initiativen aus dem Land, die sich am Aktionsplan für Gleichstellung der Landesregierung) an die für Gleichstellung zuständige Ministerin Katrin Altpeter (SPD). Die Landesliste ging aus einer Initiative des AK Lesben und Schwule bei ver.di hervor und wurde von Joachim Stein, Sven Tröndle und Kim Schicklang initiiert.

Ein Bericht findet sich hier

Im April 2012 wurde auf einer Veranstaltung der grün-roten Landesregierung (Anhörung im Landtag zum Aktionsplan für Gleichstellung und Akzeptanz,) eine Broschüre verteilt, in der transsexuelle Menschen als nicht-biologisch definiert wurden. ATME protestierte dagegen. Im Mai berichteten wir darüber, dass die Landesregierung angeblich aus Platzgründen "transsexuelle und intersexuelle Menschen" vom Einladungsflyer zu dieser Veranstaltung gestrichen hatte

Der Artikel dazu findet sich hier

Im Juni hielt Kim Schicklang beim CSD-Empfang im Staatsministerium Stuttgart eine Rede zur Situation transsexueller Menschen.

Ein Ausschnitt der Rede:
"Werden transsexuelle Menschen irgendwo miterwähnt, dann meistens indem ihr geschlechtliches Selbstwissen als Phantasie, Befindlichkeit oder als psychische Störung definiert wird. Transsexuelle Frauen werden bis heute als Männer, die in der Frauenrolle leben wollen dargestellt und transsexuelle Männer müssen sich Gefallen lassen, als Frauen zu gelten, die als Mann leben wollen. Selbst in Schwul-Lesbischen Kreisen hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass beispielsweise transsexuelle Frauen keine verkleideten Männer sind, sondern durchaus ein genauso klares Wissen über ihre Geschlechtszugehörigkeit besitzen, wie Schwule und Lesben über ihre sexuelle Orientierung."

Die komplette Rede findet sich hier

Ende 2012 beschlossen die Beteiligten des neugegründeten Landesnetzwerks LSBTTIQ, das aus der Landesliste (initiiert vom AK Lesben und Schwule bei ver.di, Joachim Stein, Sven Tröndle und Kim Schicklang) hervorging, dass es keine Quotenregelung für die Beteiligung transsexueller Menschen am Aktionsplan benötigt. Mit einer Mehrheit der homosexuellen Stimmen wurde beschlossen, dass von 12 Sitzen im neugegründeten Gleichstellungsbeirat der Landesregierung 11 homosexuelle Menschen erhalten und ein einziger an einen transsexuellen Menschen gehen soll
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Im Jahr 2013, auf der ersten Sitzung des Gleichstellungsbeirates der Landesregierung in Baden-Württemberg erhielten alle Anwesenden einen aktuellen Menschenrechtsbericht der Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V., in welchem die Menschenrechtsverletzungen an transsexuellen Menschen aufgeführt sind. In diesem Bericht geht es u.a. um Zwangspsychiatrisierung und Umpolungstherapien an transsexuellen Kindern. Bei der Sitzung war die Ministerin Katrin Altpeter (SPD) anwesend.

Anfang 2013 traten die im Netzwerk LSBTTIQ vertretenen Transsexuellenverbände aus Protest aus (u.a. dgti und ATME) und wiesen darauf hin, dass Gleichstellung nur bedeuten kann, wenn auch trans- und intersexuelle Menschen am Aktionsplan gleichberechtigt vertreten sind. Emanzipierte Trans- und intersexuelle Menschen formulieren ihre Forderungen unter intra-bw.de

Im Mai 2013 wurden transsexuelle Menschen in Baden-Württemberg mit einem Einladungsschreiben der Landesregierung konfrontiert, an der die Zahl der Beteilungung transsexueller Menschen am Aktionsplan limitiert wird. Die Landesregierung gibt das Signal aus: Der Rest muss draussen bleiben.

Ein Kommentar dazu

Bei einer Demonstration Anfang Juli in Stuttgart übergab ATME e.V. die Broschüre "Warum sind manche Menschen transsexuell?" und den aktuellen Menschenrechtsbericht von ATME e.V. an die Landesregierung.

Ende Juli 2013 veröffentlichte die Landesregierung eine Aufstellung, was sie für Gleichstellung unternimmt.

Aufgelistet werden: Eingetragenen Lebenspartnerschaften.
Was nicht aufgelistet wird: Themen trans- und intersexueller Menschen wie Entpsychopathologisierung, Aufarbeitung der Missbrauchsfälle durch Begutachtungen, genitale Zwangszuweisungen bei Neugeborenen, etc.
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Fazit:

Wir belassen es bei einem "Hmm...". Oder vielleicht noch eine Frage hinterher: Für wie naiv hält die grün-rote Landesregierung transsexuelle Menschen eigentlich? Seit Jahren sind die Menschenrechtsverletzungen an transsexuellen Menschen bekannt. Sie sind Thema bei Vereinten Nationen und Europarat. Und vorallem: Sowohl SPD, als auch die Grünen wissen seit Jahren in Baden-Württemberg darüber Bescheid. Glaubt die Landesregierung allen Ernstes so tun zu können, als wäre das Thema "Transsexualität" wirklich so neu und unbekannt?

Hmm...

Deutschland Transphobia

Am 10. Juni hat der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe eine Beschlussempfehlung und einen Bericht veröffentlicht, die sich zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung äussert. Obwohl die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen explizit erwähnt werden, werden Transsexuelle Menschen hier wieder einmal ausgeklammert. Damit setzt die Bundesregierung das fort, was in den letzten Jahren offizielle Haltung war: Transsexuelle Menschen, also Menschen, die mit gengeschlechtlichen Körpermerkmalen geboren werden, gibt es nicht.

Der Bundestag bittet in dem Papier die Bundesregierung, dass der Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen in einem Menschenrechtsbericht, besondere Ausmerksamkeit gewidmet wird. Als Menschenrechtsorganisation, die bereits beim letzten UPR-Bericht an die Vereinten Nationen darauf hingewiesen hat, dass sex und gender zweierlei sind, und körperliche Besonderheiten nichts mit geschlechtlichen Rollen oder Identitäten zu tun hat, werten wir die Veröffentlichung dieses Papiers als Bestätigung des Desinteresses der deutschen Politik, sich mit transsexuellen Menschen auseinander zu setzen. Bereits seit 2008 fordern die Vereinten Nationen Deutschland dazu auf, auf transsexuelle Menschen zuzugehen und ihre Probleme ernst zu nehmen.  Im Frühjahr 2009 äusserte Silvia Pimentel, Mitglied des CEDAW-Frauenrechtskomitees der Vereinten Nationen, beispielsweise, dass das Paradoxon beendet werden müsse, dass transsexuelle Frauen sich als psychisch kranke Männer bezeichnen lassen müssten, um als Frauen anerkannt zu werden. Das Transsexuellengesetz existiert bis heute. Gemeldet hat sich die Bundesregierung bei transsexuellen Menschen bis heute nicht.

Zugleich wurden in den vergangenen Jahren Tendenzen untersützt, nach denen behauptet wird, transsexuelle Frauen seien "biologische Jungs" bzw. "biologische Männer", die sich wie Frauen fühlten und transsexuelle Männer seien biologische Frauen. Psychopathologisierenden Konzepten, wie die Idee einer "Gender Dysphorie", ein Begriff der aus den 70er-Jahren stammt, wurde Raum gegeben und jeder Versuch verhindert, geschlechtliche Vielfalt anzuerkennen. Im Saarland bekam eine Filmautorin, die eine transsexuelle Frau als Mann dargestellt hat, bei einem Filmfestival den Preis der Ministerpräsidentin. Ebenfalls für das Saarland tritt eine transsexuellenfeindliche Musikkapelle für den Bundesvision Song Contest an, mit einem Song, der so tut, als sei eine transsexuelle Frau, ein umoperierter Mann. In Baden-Württemberg werden transsexuelle Menschen bei einem Aktionsplan zur Gleichstellung nur als Randnotiz wahrgenommen und die Gruppen der unorganisierten Gruppen von den Gesprächen so gut wie ausgeschlossen. In Berlin arbeitet ein Sexologe immer noch unbehelligt in einer Klinik, die eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, und damit dem Senat unterstellt ist, der offen in seinen Büchern Umpolungstherapien an transsexuellen Kindern anbietet. Auf dem Filmfest in München wird im Juli ein Film vorgefüht, der so tut, als zeigte er eine transsexuelle Frau, und zum dem der Regisseur die Haltung vertritt, dass diese Frau ein "etwas doofer Kerl" ist, der noch aussieht wie einer, darin aber "ganz sexy" sei. Der Film ist für Preise nominiert. In Talkshows sürfen sich transsexuelle Männer Fragen anhören, wie das "so war als Frau" und transsexuelle Frauen werden dafür gelobt, dass sie zu den emanzipierten Männern gehören, die offen mit Rock und Schürze, "als Frau leben".

In Deutschland dürfen intersexuelle Menschen sich von transsexuellen Menschen abgrenzen und so tun, als ginge es bei Transsexualität primär um Identität, obwohl "sex" in transsexuell körperliche Merkmale meint und diese nichts mit der Identität eines Menschen zu tun hat. Homosexuelle Menschen dürfen transsexuelle Menschen als Menschen vereinnahmen, die in ihren Augen Gender-Performances vollziehen. Dass geschlechtliche Fremdbestimmung ein No-Go ist, auch wenn intersexuell und homosexuell hinten auch "-sexuell" als Wortbestandteil enthalten, juckt keine Sau. Nirgends ist ein Aufschrei da, der sich gegen diesen Missbrauch zur Wehr setzt, ausser bei manchen Betroffenen selbst, die dieses Spiel nicht mitspielen... die wissen, dass, auch wenn in Deutschland Transsexualität als widernatürlich angesehen wird, und man deswegen hierzulande nicht in der Lage ist, ein transsexuelles Mädchen als biologisches transsexuelles Mädchen und einen transsexullen Jungen als biologischen transsexuellen Jungen anzuerkennen, trotzdem wissen, dass sie genauso ein Recht darauf haben, nicht als widernatürlich zu gelten, wie jeder andere Mensch auf diesem Planeten auch.

Die Liste der geschlechtlichen Fremdbestimmung in Deutschland könnte endlos fortgesetzt werden und jeder macht mit.

Fazit: Deutschland ist ein transsexuellenfeindliches Land mit transphoben Tendenzen in Politik und Medizin. Da wundert uns nicht, dass transsexuelle Menschen wieder einmal in einem Bericht und einer Beschlussempfehlung des Bundestages vergessen werden.
Als Menschenrechtsorganisation beobachten wir die Situation transsexueller Menschen in Deutschland seit Jahren und kommen zum Ergebnis, dass sich hier nichts ändern wird, bis zu dem Zeitpunkt, an welchem transsexuelle Menschen der system-immanenten Transsexuellenfeindlichkeit durch ihre eigene Haltung eine deutliches "Nein" entgegenbringen werden. Warum nicht sofort damit anfangen?


Ach wenn es nicht lohnt:


Ein weiteres Papier von Ignoranten, die sich "Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe" nennen.